Die ersten sechs Kinderjahre

 

 

Das erste Lebensjahr eines Kindes ist sowohl für die Kinder als auch die Eltern das wohl spannendste und erlebnisreichste Lebensjahr. Bereits kurz nach der Geburt nimmt ein Baby seine Umwelt mit allen Sinnen wahr. Babys sind ausgestattet mit einem reichen Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch und einer fast grenzenlosen Lernkapazität, vorausgesetzt ihre Umwelt bietet, die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke. Babys begeben sich mit allen Sinnen auf Entdeckungstour und suchen Kontakt mit Menschen, die ihnen zugewandt sind. Die Sinne sind zwar allesamt funktionsfähig, reifen aber erst noch in den folgenden Lebensmonaten. So können sie mit zunehmender Zeit zunächst nur Umrisse von Personen wahrnehmen, bis die die Person vor sich mit allen Details betrachten können. Besonders beobachten sie Augen und Mund mit ihren Bewegungen. Das Aussehen von Vertrauten, ihr Geruch und die Nähe bedeuten für sie Geborgenheit, Liebe und Schutz. Mit wenigen Monaten äußern Babys ihre Bedürfnisse, Befindlichkeiten und ihr Interesse zunehmend durch Körperhaltung, Mimik, Gestik, Blickverhalten und Laute. Die Umgebung und Mitmenschen werden ab fünf bis sechs Monaten deutlich wahrgenommen und auch auf sie reagiert.

Um den achten Lebensmonat kann eine plötzlich auftretende Skepsis fremden Personen gegenüber eintreten. Das „Fremdeln“ ist ein normaler Entwicklungsprozess, der von Kind zu Kind individuell verläuft. Ab dem neunten Lebensmonat richtet ein Baby sein eigenes Verhalten nun bewusst am Verhalten eines anderen Menschen aus. Es kann einem Fingerzeig mit den Augen folgen, Aktionen anderer Menschen nachahmen oder auf erwünschte Objekte zeigen. In Geschichten beispielsweise zeigen sie auf Bilder, die ihnen besonders gut gefallen oder können deinem Finger folgen, wenn du ihnen etwas Bestimmtes zeigen möchtest.

Kinder lesen Gesichter und Körperhaltung und entscheiden daraufhin intuitiv, ob sie sich wohlfühlen. Aus diesem Grund ist es wichtig, Babys eine ruhige und freundliche Stimmung entgegenzubringen, in der sie sich sicher und geborgen fühlen können. Kinder im ersten Lebensjahr spielen und erkunden mit ihrem ganzen Körper. Besonders die Hände und der Mund sind aktiv beim Ertasten. Auch wenn sie sich meist nur über Laute äußern, können sich Babys ab dem sechsten Lebensmonat gut an Dinge und Personen erinnern sowie Wissen aufnehmen und speichern. Sind in Bücher Bilder zu sehen, die ihnen vertraut vorkommen, so werden sich auch hier die Kinder erinnern und versuchen es durch Laute oder Gestik zu zeigen. Die Konzentrationsfähigkeit von unter Einjährigen ist noch sehr gering. Sie lassen sich schnell ablenken, da das Interessanteste ihre Aufmerksamkeit erhält. Auch die Sprachentwicklung lässt sich von Büchern und Vorlesen beeinflussen, da Kinder von Gesprochenem lernen. Sie beobachten den Klang der Stimme, die Aussprache, Betonungen und das Wort an sich. Sie speichern diese Charakteristika eines Wortes oder versuchen es direkt mit ihren Lauten nachzumachen.

 

Im zweiten Lebensjahr eines Kindes stehen Erkundung und Interaktion mit der Umwelt im Vordergrund. Besonders durch das, im zweiten Lebensjahr zunehmend komplexer verlaufende Spielen, lernen Kinder. Materialien, Formen und Farben werden erkundet und mit zunehmenden Lebensmonaten wird funktionsgerechter damit umgegangen: Mit Klötzen wird gebaut, mit Stiften gekritzelt und Sand geschüttet. Auch Bücher werden für Kinder interessanter, da mit ihnen alleine umgegangen werden kann. Das Blättern der Seiten und auch die anschaulichen Abbildungen werden genauestens beobachtet und sich damit identifiziert. Sie lenken hierauf auch zunehmend ihre Konzentration und können sich ein paar Minuten am Stück hiermit beschäftigen. Sichtbar werden mit der Zeit auch planvolle Handlungen, da die Vorstellungskraft der Kinder stetig zunimmt. Die Kinder entwickeln langsam Fantasie. So können sie auch den Geschichten in Büchern zunehmend folgen. Da im zweiten Lebensjahr die Sprachentwicklung weiter ausgebaut wird und mit ungefähr 18 Monaten die 50-Wörter-Grenze erreicht ist, sprechen die Kinder zunehmend über ihre Handlungen. Auch hier ist besonders das gesprochene Wort besonders wichtig. Die Kinder lesen ihren Menschen gegenüber und lernen ständig dazu. Gemeinsames Lesen und unterstützen ist für die Kinder besonders prägend, außerdem fördert es ihre Konzentration. Durch spannende Geschichten und ein anschauliches Vorlesen fällt es ihnen leichter, sich nur hierauf zu konzentrieren. Bei Kindern entsteht ein gewisses Ich-Bewusstsein. Sie nehmen sich nun als eigenständigen Menschen wahr, der aber die Kontrolle behalten möchte. Dennoch sprechen sie über sich und andere meist pauschalisiert, da sie noch nicht zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden können. Lernt das Kind beispielsweise aus einer Geschichte wie ein Hund aussieht, dann wird zunächst jedes vierbeinige, flauschige Tier als Hund bezeichnet.

 

Im dritten Lebensjahr eines Kindes entwickeln sie zunehmend ein „so-tun-als-ob Spiel“. Sie übertragen ihre Vorstellungen und Ideen auf die Realität und spielen diese Situationen durch. Situationen aus Büchern sind hier nicht selten wiederzufinden.  Auch das Spiel mit anderen Kindern wird interessanter, wobei es meist aus gegenseitiger Imitation besteht. Das Teilen stellt eine große Entwicklungsaufgabe für Kinder im dritten Lebensjahr dar und kann Konflikte unter den Kindern hervorrufen. Durch Konsequenz und Kreativität findet sich hier aber schnell eine Lösung. Das zunehmende Selbstbewusstsein mündet in der Trotzphase. Sie ist geprägt vom „Grenzen austesten“ und von Gefühlsausbrüchen. Auch hier vermittelt Konsequenz, aber auch Verständnis gegenüber dem Kind, die von ihm benötigte Sicherheit. Geschichten und das darüber Sprechen vermitteln den Kindern dieses Verständnis. Im dritten Lebensjahr haben Kinder ein gewisses Maß an Mitgefühl entwickelt, auch durch Geschichten, die dieses vermitteln, und können sich in andere Personen hineinversetzen. Ihre Sprachentwicklung ist so weit vorangeschritten, dass sie über ihre Emotionen sprechen können. Besonders im dritten Lebensjahr lernen Kinder durch Gespräche und Geschichten neue Wörter und fördern so ihre Grammatik. Daher ist es wichtig, so viel wie möglich über gelesene Geschichten anschließend zu sprechen und den Kindern einfache Fragen zu stellen. Präpositionen (auf/unter) werden von den Kindern zunehmend verstanden und auch Ein- und Mehrzahl wie auch die Zahlen sind den Kindern bekannt. Ein Wiederholen festigt das Wissen der Kinder. Die Kinder sind offen und neugierig gegenüber neuen Situationen, Geschichten und Fragen und lassen sich auch gerne auf diese ein.

 

Im vierten Lebensjahr wird das Kind deutlich aktiver. Es weiß seinen Körper bewusst einzusetzen und hat daran auch große Freude. Die Sprachentwicklung wird weiter ausgebildet. Das Kind kann nun gut und gerne in Sätzen sprechen, hat jedoch ab und zu Schwierigkeiten bei verschiedenen Lauten (g-k). Durch Wiederholungen und langsames Sprechen lernen sie dennoch schnell dazu. Auch Mengen- und Zeitangaben können Kinder im vierten Lebensjahr richtig einschätzen und anwenden. Geschichten veranschaulichen simple Fragen, die den Kindern hierzu gestellt werden können, indem Bezug zur Geschichte genommen wird.  Zusätzlich sind sie nun im Frage-Alter: „was, wie, warum, wer und wo“. Auch wenn die Antworten für sie mitunter noch irrelevant sind, bleiben sie interessiert und geben sich oft nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Für die Kinder ist es ein Prozess, um Wissen langfristig speichern zu können. Es ist stets positiv zu sehen, wenn die Kinder auch an Geschichten zunehmend interessiert sind und Fragen stellen. Die Geschlechterrollen werden im Alltag aber auch in Büchern nun konkret benannt und auch über sie gesprochen. Im Spiel untereinander nimmt ein gleichaltriges Kind den Platz des Erwachsenen ein - als Lieblingsmitspieler. Spiele werden gemeinsam entwickelt und darüber gesprochen. Auch wenn sich die Kinder nun besser in andere Personen hineinversetzen können, erleben sie im vierten Lebensjahr ihre magische Phase. Kinder können hier nicht zwischen Realität und Fantasie unterscheiden. Aus diesem Grund sind Geschichten besonders behutsam zu wählen, da sie den Kindern schnell Angst machen oder Unsicherheit vermitteln können. Ein anschließendes Gespräch hilft den Kindern, ihre Gefühle und das Gehörte zu verarbeiten. Es ist ganz normal, wenn sich die Kinder noch nicht zu lange konzentrieren können. Aus diesem Grund ist die richtige Vorlese-Atmosphäre wichtig. Die Umgebung, aber auch der Vorleser und das Thema der Geschichte können die Aufmerksamkeit der Kinder beeinflussen.

 

Das fünfte Lebensjahr eines Kindes besticht durch die gewollte Selbstständigkeit. Möglichst vieles möchte es selbst erledigen, um Eigeninitiative und Selbstständigkeit zu entwickeln. Auch Bücher werden sich so vorgenommen, als würde es keinen Erwachsenen zum Lesen hierfür brauchen.  Für diesen großen Entwicklungsschritt benötigen sie Experimentier- und Freiräume. Erwachsene können dies bestärken, indem sie solche Freiräume schaffen und Kindern Aufgaben zutrauen und sie motivieren, jedoch stets als Rückhalt an ihrer Seite stehen. Die Kinder verstehen Geschichten aus Büchern oft schon durch ihre Bilder. Auch hier sollten die Kinder bestärkt werden, indem auf sie eingegangen wird und sie zum Thema gefragt werden. Sie freuen sich über diese Aufmerksamkeit und werden gerne ihre Geschichte zu den Bildern erzählen. Kinder äußern ihre eigene Meinung und ihre Wünsche. Sie können anderen in einer Gruppe konzentriert zuhören und sich auf Gesagtes beziehen. Außerdem wissen sie meist mit Kritik umzugehen und können Konflikte eigenständig lösen. Auch wenn die Kinder noch nicht Lesen oder Schreiben können, nimmt das Interesse an Klang von Worten und der Schrift enorm zu. Informationen werden in bildhafter Symbolsprache umgesetzt. Für Kinder ist es eine große Freude, wenn der Inhalt der Symbolsprache richtig erkannt wird. Das Interesse hieran kann gesteigert werden, werden ihnen gewünschte Wörter aufgeschrieben. Kinder haben spätestens im fünften Lebensjahr vollständig moralisches Wissen entwickelt. Sie wissen was „gut“ und „schlecht“ ist und auch was als „richtig“ oder „falsch“ angesehen wird. Auch Verhaltensregeln sind nun gefestigt und deren Einhaltung wird auch meist von den Eltern erwartet. Diese Themen können für Kinder auf anschauliche Weise in Büchern umgesetzt sein. Ihr Interesse an Büchern lässt sie spielerisch viele Informationen sammeln.

 

Im sechsten Lebensjahr eines Kindes finden besonders Spezialisierungen und Differenzierungen statt. Auch wenn Kinder noch nicht Ironie oder Witz verstehen, sind sie nun schon selbst so wortgewandt, dass sie sich diese selbst ausdenken. Besonders beliebt sind Reime. Kommen diese in Kinderbüchern vor, ist das Interesse und der Spaß an ihnen noch größer. Spiele werden aktiver und zunehmend nach ihrer Funktion eingesetzt, gleichzeitig beschäftigen sie sich konzentriert mit detailreichen Fantasiespielen. Neue Denkvorgänge lassen sie Farben und Materialien benennen wie auch Größe, Anzahl und Formen. Auch hier festigen Bücher mit Beispielen das Wissen. Das Interesse an Ordnen und Kategorisieren ist besonders groß. Auch komplexe Zusammenhänge erkennen die Kinder und wenden sie selbstständig an. Um die Sprachentwicklung zu fördern, kann nach ihren Meinungen gefragt werden. Sie haben ein hohes Maß an Eigeninitiative entwickelt, können dies aber in Gruppensituationen auch hintenanstellen, so lange eine andere Person spricht. Ihre Ausdauer und Aufmerksamkeit ist so weit ausgebildet, dass sie sich 15 Minuten lang intensiv und konzentriert mit einem neuen Thema alleine beschäftigen können. Kinder im sechsten Lebensjahr werden besonders auf den Übergang in die Schule vorbereitet. Ihnen kommt große Aufmerksamkeit zu, die, je nach Kind, zu Überforderung oder aber Motivation führen kann. Ruhephasen und eigenständiges Handeln im jeweiligen Tempo sind besonders wichtig, um den Spaß und die Motivation am Lernen nicht zu verlieren.